Taijiquan als geistiger Weg

Sasa Krauter im Interview mit Jan Silberstorff

„Das Taiji-Prinzip ist universal, das ist kein System oder kein Stil, es ist die Wirklichkeit.“

Sasa Krauter: Warum machst du selbst so intensiv Taijiquan, oder anders gefragt: Was ist dein Ziel?

Jan Silberstorff: Ich habe mit elf Jahren angefangen, mich ernsthaft und intensiv mit Alkohol zu beschäftigen. Das war toll: auf Partys gehen und Spaß haben. Man hatte das Gefühl, das Leben finde hier und jetzt statt. Ich würde das zwar nicht gerade als spirituelle Eigenschaft bezeichnen (lacht), aber du hattest so das Gefühl, dass alles, was Zukunft ist, nicht interessiert, und dass Altwerden sowieso nicht gut ist, weil man da nur arbeiten muss.

Wir haben natürlich unheimlich viel Raubbau betrieben, dies aber mit der klaren Erkenntnis: Ich kann ruhig Raubbau betreiben, denn ich will sowieso nicht alt werden. Was ich damals bei der Elterngeneration gesehen habe, hat mich nicht beeindruckt. So wollte ich nicht werden. Also musste ich auch nicht so alt werden.

Als ich 18 war, kam aber irgendwo ein anderer Punkt. Ich weiß noch, ich saß auf Toilette und plötzlich fiel mir auf, dass ich, je älter ich werde, um so mehr lernen kann. Und mit Lernen meinte ich damals nicht das Anhäufen von Wissen, sondern das Verstehen. Das Leben selbst, also Weisheit. Und plötzlich hatte ich den Eindruck, ich muss doch alt werden, um zu verstehen, was das hier eigentlich alles ist. Kurz danach habe ich durch Zufall Taiji entdeckt. Das hat mich dann nicht mehr losgelassen. Ich hatte den Eindruck, dass das das Medium ist, mit dem ich meine Fragen beantworten kann, mit dem ich ein Leben lang weiter wachsen und mich dieser Erkenntnis, dieser Weisheit immer weiter annähern kann.

Obwohl das von Anfang an ausschlaggebend war, war vordergründig natürlich Kampfkunst immer besonders wichtig. Wenn wir betrunken waren und uns mit anderen Gruppen geschlagen haben, haben wir meistens verloren. Deshalb suchten wir nach einer besseren Methode. Das heißt, wenn ich zum Training gegangen bin, war lange Zeit das Ziel wirklich Kampfkunst. Dass das nun Taijiquan war, was für einen Laien erst einmal überhaupt nichts mit Kampf zu tun hatte, lag an diesem Ausgangspunkt.

Die ersten zehn Jahre war es für mich dann wirklich Kampfkunst, die das Ziel war – auch mit der Herausforderung, den Leuten zu zeigen, dass das, was für den Kampf eigentlich nicht zu funktionieren scheint, nämlich Taiji, eben doch funktioniert. Das haben wir innerhalb von zehn Jahren in der deutschen Kampfkunstszene auch geklärt und haben uns einen ganz guten Namen gemacht. Dann kam das Eigentliche wieder zum Vorschein: die philosophische, spirituelle und für mich jetzt auch religiöse Ebene der Geschichte.

Sasa Krauter: Hast du früher, als dich Kampfkunst mehr interessiert hat, anders trainiert als heute, wo dich mehr „das Spirituelle“ interessiert? Ändert sich die Methodik, die Herangehensweise abhängig vom persönlichen Ziel?

Jan Silberstorff: Eigentlich nicht. Worum ich mich heute nicht mehr so viel kümmere wie früher, ist die sportliche Ausrichtung: Turniere, Wettkämpfe. Selbst teilzunehmen geht sowieso nicht, da meine Schüler an den Turnieren teilnehmen. Und als Lehrer gegen die Schüler auf einem Turnier anzutreten, ist irgendwie unfair. Aber vielleicht hat da auch das Interesse ein bisschen nachgelassen. Das hätte es vielleicht sowieso. Ich bin jetzt 43. Das sportliche Interesse ist mit 43 nicht mehr so groß wie mit 25. Das liegt nicht an meinem größeren spirituellen Interesse, ich glaube vielmehr, dass das spirituelle Interesse sowieso mein Ausgangspunkt war. Ich glaube außerdem, dass das Spirituelle durch Fortschritt im Taiji und eigentlich in jeder Kampfkunst bei Leuten, die ernsthaft besser werden und mit ihrer Kunst wirklich tiefer gehen, unvermeidlich die Oberhand gewinnt. Und darüber wird nachher natürlich auch die Kampfkunst entscheidend besser. Weil der Geist die entscheidende Seite der Kampfkunst ist – immer.

Sasa Krauter: In einem deiner Artikel im Pushhands-Buch ganz zum Schluss schreibst du, dass man die Form immer so trainieren sollte, dass ihre einfache und direkte Kampf­anwen­dung ersichtlich wird.

Wenn wir eine Form laufen, sollten wir uns auf das Wai San He und, wenn das so weit klar ist, auf das Nei San He, in dem dann auch die ganze Energiearbeit enthalten ist, konzentrieren und nicht auf die Kampftechnik.

Jan Silberstorff: Wie der Großmeister in dem 5-Level-Buch geschrieben hat, das ich kommentiert habe, sollte man sich vor dem vierten Level, wenn man eine Form läuft, gedanklich nicht mit Anwendungen auseinandersetzen. Wenn wir eine Form laufen, sollten wir uns auf das Wai San He und, wenn das so weit klar ist, auf das Nei San He, in dem dann auch die ganze Energiearbeit enthalten ist, konzentrieren und nicht auf die Kampftechnik. Egal, wofür du trainierst. Ich würde nicht sagen, dass sich mein Training verändert hat. Das Training ist immer gleich. Aber je mehr Tiefe du erreichst, desto wichtiger wird der Geist. Und so wird es auch immer interessanter für dich.

Sasa Krauter: Man hört ja immer wieder, dass im Chen-Stil beziehungsweise unter Chen Xiaowang betont wird, dass es wichtig sei, die Formen ganz viel zu wiederholen. Meine Erfahrung ist, dass es auch erschöpfend ist, so viel und hart zu trainieren. Ab einem gewissen Alter sowieso.

Jan Silberstorff: Da muss man fragen, wie man die Form läuft. Es kommt darauf an, was man unter „hart trainieren“ versteht. Wir machen ja, wenn man das so aufteilen möchte, auch wenn ich kein Freund davon bin, eine innere Kampfkunst. Viele erliegen aber auch nach Jahren noch oder ihr ganzes Leben lang der Versuchung, dass sie hart trainieren müssen. Hart in dem Sinne, wie man sich Gongfu vorstellt: Ich muss jetzt erledigt in der Ecke liegen, dann habe ich gut trainiert. Das ist es nicht. Ich laufe heute von morgens bis abends Formen durch, eine nach der anderen, und habe abends immer ein schlechtes Gewissen, zu wenig geübt zu haben, obwohl ich den ganzen Tag nichts anderes gemacht habe. Das liegt daran, das es eben überhaupt nicht ermüdet, weil es nicht anstrengend ist. Ich mache das nun seit 25 Jahren. Mein Körper und Geist ist das gewohnt. Das ist eigentlich die wichtigere Komponente: dass der Geist diese Ruhe hat, wirklich den ganzen Tag trainieren zu können, ohne plötzlich zu denken: „Ich muss jetzt auch mal was anderes machen“. Man muss natürlich die Voraussetzungen und die Zeit dafür haben.

Aber das Training ist eigentlich weder hart noch nicht hart. Du machst halt eine Form nach der nächsten. Du versuchst die Formen richtig zu machen, aber du suchst nicht die physische Anstrengung darin. Das kann für die Physis anstrengend sein, und das ist es auch, aber du suchst die Anstrengung nicht. Und dadurch, dass du sie nicht suchst, gewöhnen sich Körper und Geist daran, und irgendwann hast du einen Energiefluss im Körper erreicht, so dass es sich nur noch gut und angenehm anfühlt. Und dann ist das Training ein Selbstgänger.

Sasa Krauter: Du hast in unser System, zumindest in unserem Verband, der WCTAG, die Sitzmeditation eingeführt. Warum?

Jan Silberstorff: Je tiefer du kommst, umso mehr wirst du auf den Geist zurückgeworfen. Der Geist ist Ausgangs- und Endpunkt der gesamten Entwicklung. Wenn man sich für Spiritualität interessiert, ist über den Geist schließlich und endlich das Einzige zu erlangen, was überhaupt Permanenz hat, wenn wir von Vergänglichkeit und Wandel ausgehen. Wir wissen, dass wir sterben. Jim Morrison hat so wunderschön gesagt: „Keiner kommt hier lebend raus.“

Das heißt: Wir sterben alle. Wenn man nun damit aber nicht zufrieden ist und sagt: Eigentlich ist das keine schöne Idee, dass wir alle sterben. Was bringt das jetzt alles? Warum soll ich hier jetzt irgendwas machen, wenn ich sowieso sterbe? Und von den 14 Milliarden Jahren Universumsgeschichte kann ich höchstens 70, 80, 90, 100 Jahre leben. Ich komme quasi gar nicht vor. Das kann ein bisschen deprimierend wirken. Wenn man dann fragt: Gibt es da nicht irgendwie etwas nach dem Tod? Oder: Wo war ich vor der Geburt? Wenn man sich mit diesen Fragen beschäftigt, wird man immer nur auf den Geist zurückgeworfen. Weil der Körper definitiv zerfällt und in dem Geist entsprechend das ist, was einen dann weiterträgt, um es mal vereinfacht auszudrücken.

Sasa Krauter: Dazu fällt mir spontan ein, was Zheng Manqing auf die Frage gesagt hat, warum er denn Taiji macht. Er sagte sinngemäß: Älter und weiser werden wir sowieso. Wenn alles gut läuft, entwickelt sich der Geist sowieso weiter, aber der Körper verfällt mit zunehmendem Alter. Er übte Taiji, um die Vorzüge dieser geistigen Entwicklung möglichst lange mit einem gesunden Körper genießen zu können. Also gerade anders herum. Ich denke auch, dass es ein großer Vorteil unseres Systems ist, dass wir die körperliche Gesundheit erhalten können, um mit dem Geist zu arbeiten.

„Es ist gut, auch eine Übung zu haben, in der ich mich ausschließlich mit dem Geist beschäftige, und das ist die Sitzmeditation. Diese war immer Bestandteil des Chen-Systems.“

Jan Silberstorff: Ganz genau, das ist ja auch das Wichtige: Die Länge des Lebens gibt mir die Möglichkeit, meinen Geist weiterzuentwickeln. Ich weiß ja nicht, was danach passiert. Ich weiß nur, dass ich es jetzt kann. Also nutze ich das doch jetzt. Und deshalb ist der Geist das Entscheidende. Der Körper wiederum trägt den Geist, also muss auch der Körper gesund erhalten werden, damit ich lange mit dem Geist arbeiten kann. Wenn es um den Geist geht – weil innerhalb des Geistes nachher die Ebene zu erreichen ist, die der Wandlung enthoben oder nicht von der Wandlung abhängig ist –, dann brauche ich natürlich auch etwas, wo ich direkt mit dem Geist arbeite. Das tue ich in den Taiji-Formen, das tue ich in der Stehenden Säule, das tue ich in den Seidenübungen. Aber es ist gut, auch eine Übung zu haben, in der ich mich ausschließlich mit dem Geist beschäftige, und das ist die Sitzmeditation.

Diese war immer Bestandteil des Chen-Systems. Ich habe sie nicht neu eingeführt, die gab es immer. Chen Xiaowang meditiert, die anderen Großmeister meditieren auch. Sie spielt nur nach außen hin nicht so eine große Rolle, sie wird auch nicht so oft vermittelt. Ich habe verschiedene Meditationstechniken in Chenjiagou gelernt. Es gibt keine einheitliche Sitzmeditation, jeder macht das ein bisschen auf seine Weise. Der Background des Taiji ist ja ein daoistisch-konfuzianisch-buddhistischer, diese drei Religionen zusammen. Und so ist auch die Meditation: Der eine macht es ein bisschen so, der andere ein bisschen mehr so.

Die Techniken habe ich gelernt und dann ein paar Jahre sehr intensiv praktiziert. Später dann hatte ich die Möglichkeit, das sehr viel weiter zu vertiefen, da mich ein Mönch eingeladen hat, bei sich in seiner Einsiedelei in Sri Lanka intensiv meine Meditation zu machen, und mir dabei auf wundervolle Weise half. Obwohl es ein buddhistischer Therevadamönch war, ging es nicht darum, buddhistische Meditation zu machen; er hat mir vielmehr bei meiner Taiji-Meditation geholfen. Er ist in seiner Praxis unheimlich weit und konnte sich so hervorragend auf mich einstellen.

Und dann habe ich da zehn Jahre lang jeden Januar 28 Tage lang in Sri Lanka mit seiner Begleitung mein Retreat gemacht und die Taiji-Meditation noch mal auf eine ganz andere Tiefe gebracht. Oder, um es bescheiden auszudrücken, er hat mich dorthin gebracht. Ich habe dann nach diesen zehn Jahren, also insgesamt nach fast zwanzig Jahren, diese Taiji-Meditation entwickelt.

Weil es sehr viele verschiedene Übungen waren, habe ich sie für unsere Zwecke ein bisschen von Überflüssigem befreit. Auf was ich verzichtet habe, mag für andere in anderen Zusammenhängen sehr sinnvoll sein, aber für das, was wir machen, dafür brauchen wir all dies nicht. Ich habe drei spezifische Geschichten herausgearbeitet und zusammengestellt, dem Großmeister vorgeführt, mit ihm durchgesprochen, seine Lehrerlaubnis erhalten und sie dann eingeführt. Zuerst in Deutschland und jetzt auch nach und nach in den anderen Ländern.

Sasa Krauter: Das ist sehr interessant, einmal die Geschichte zu diesen drei Stufen zu hören. Die erste Stufe zum Beispiel ist vor allen für das Entwickeln eines Dantian-Gefühls empfehlenswert, würde ich sagen.

Jan Silberstorff: Genau.

Sasa Krauter: Viele, die sich mit Taijiquan auskennen, sagen ja, dass genau das oft fehlt, das Dantian-Gefühl und in der Folge dann auch das Bewe­gen aus dem Dantian.

„Ich kann aus meiner Erfahrung ganz klar sagen, dass ich mein Dantian-Gefühl erstmalig und hauptsächlich aus dieser Meditation gewonnen habe.“

Jan Silberstorff: Ich kann aus meiner Erfahrung ganz klar sagen, dass ich mein Dantian-Gefühl erstmalig und hauptsächlich aus dieser Meditation gewonnen habe.

Sasa Krauter: Ich auch. Aber dann frage ich mich natürlich: Wieso geht das übers Taijiquan nicht? Was war denn da all die Jahre los?

Jan Silberstorff: Also erst mal ist beides Taiji und beides ist Chen-Stil. Ich habe nichts Neues erfunden. Ich habe nur einen Aspekt, der außen nicht so weit wahrgenommen wird, stärker betont. Es geht natürlich auch über die Formen und die Stehende Säule. Es ist über die Meditation, bzw. deren erste Stufe jedoch einfacher, weil sie – abgesehen vom Ruhigwerden – ausschließlich diesem Ziel dient. Diese Übung ist extra dafür da.

Sasa Krauter: Wenn ich versuche, das zu analysieren, würde ich sagen: Die ersten zwei Stufen der Sitz­­meditation sind vor allen Dingen für die Konzentrationsausbildung gut, sowie um Ruhe zu finden. Die zweite Stufe ist noch mal ganz explizit gut für die Einsgerichtetheit. Und die dritte wäre dann eine soge­nannte formlose Meditation. Diese hat kein Objekt mehr im Sinne von Dantian oder Mantra. Und da liegt aber auch die Schwierigkeit. Beim Zazen beispielsweise, wird ja auch schon mal der Atem gezählt, da merkst du schnell, ob du noch dabei bist oder nicht. Bei der dritten Stufe, der formlosen Medi­tation, ist das äußerst schwierig: Bin ich jetzt noch aufmerksam, bin ich noch richtig oder drifte ich nur in irgendwelche Traumwelten ab?

Jan Silberstorff: Genau. Deshalb müssen die erste und die zweite Stufe sehr gut entwickelt sein. Deshalb haben wir auch unsere recht rigorosen Anforderungen an Leute, die das ernsthaft machen wollen: Bevor sie mit der dritten Stufe anfangen, müssen sie sich erst ein gewisses Fundament erarbeiten. Und wenn ich mich in der dritten Stufe verliere, dann gehe ich einfach wieder zur zweiten zurück und von da aus wieder los. Das ist, als wenn ich in den Wald gehe. Ich bin neulich in Brasilien durch den Busch gelaufen und hatte leider keinen „Bindfaden“ dabei, hatte aber Angst, mich zu verlaufen. Ich habe mir immer eine bestimmte Wegstrecke gemerkt, ganz bewusst: dieser Baum, jener Baum. Und wenn ich gemerkt habe, hier bin ich nicht mehr richtig, dann bin ich immer zum Ausgangspunkt zurückgegangen und von da aus dann wieder losgezogen.

Sasa Krauter: Ist ja gut, wenn man merkt, dass man sich verloren hat. Nur was geschieht, bis man es merkt?

Jan Silberstorff: Das Sich-selbst-Verlieren ist ja auch Ziel der dritten Stufe, aber auf „korrekte Weise“. Aber die dritte Stufe ist natürlich auch für das höchste Ziel da.

Sasa Krauter: Das finde ich persönlich auch schwierig. Ich denke, bei der dritten Stufe ist es am leich­testen, sich wirklich selbst etwas vorzumachen. Verstehst du?

Jan Silberstorff: Nicht ganz. Man kann das bei der zweiten genauso. Und bei der ersten eigentlich auch. Um die dritte Stufe richtig zu entwickeln, braucht man einen guten Lehrer – viel mehr als bei der ersten und bei der zweiten Stufe – und man sollte so etwas wie Retreats machen. Weil man für die dritte Stufe eine ganz andere Intensität braucht. Aber wenn man gute Begleitung hat, gute Möglichkeiten und ein gutes Fundament (durch die erste und die zweite Stufe), kann man auch da Weg von Abweg unterscheiden.

Sasa Krauter: Ich habe dir vor Jahren erzählt, dass ich jetzt das Gefühl habe, dass ich mich auf ein ganz gutes „Wellness-Level“ hochmeditiert habe, dass alles gut ist, es mir besser geht, dass es meiner Umge­bung mit mir besser geht und so weiter. Jetzt könnte ich auch aufhören, aber irgendetwas macht mich auch unzufrieden, weil ich denke, das kann es nicht gewesen sein. Da hast du mir empfohlen, noch mehr in die Stille zu gehen. Weil wir in unserem Verband diese Infrastruktur noch nicht hatten für Retreats nach Sri Lanka, das geht ja nur für Männer, und ich außerdem nicht um die halbe Welt fliegen wollte, um allein auf dem Berg zu sitzen, bin ich auf Zazen gekommen. Da gibt es Lehrer und Lehrerinnen, spirituelle Führerinnen, Seminarhäuser und Retreatmöglichkeiten.

Jan Silberstorff: Das ist ja eine Infrastruktur, an der ich die ganze Zeit bastele. Deshalb haben wir das Kloster in Sri Lanka zur Verfügung gestellt. Wie erwähnt durften dort aufgrund der buddhistischen Strukturen und Vorgaben des Tempels, den wir quasi in unseren Verband aufgenommen haben, nur Männer hin. Das kann ich nicht ändern, habe aber ja noch andere Orte zur Verfügung gestellt: in Brasilien, in Hamburg und auf Mallorca. Ich unterrichte ja auch selbst diese Schweigewochen. Jetzt biete ich die auch schon für 14 Tage an, um die Leute vorzubereiten, in solche Retreats reinzukommen, um sie dann auch selbst durchführen zu können. Es gibt ja genug Orte, auch Klöster in Deutschland, die die Möglichkeit anbieten, sein eigenes Programm zu machen. Wichtig für so ein Retreat ist aber definitiv, dass man weiß, wie man in so ein Ding reingeht, wie man das Retreat nach außen hin absichert, dass man nicht gestört wird, und wie man sich vor sich selbst schützt, nicht doch ein kleines Buch mit reinzuschmuggeln oder irgendwas. Und vor allem, wie ich da auch wieder gut rauskomme.

Sasa Krauter: Etwas ganz anderes. Kannst du mal bitte versuchen, mir zu beschreiben, wie sich das Dantian oder die Dantian-Bewegung oder -Rotation für dich anfühlt? Ich habe das Gefühl, dass wir das noch ganz oft verwechseln mit einer Hüftbewegung, mit so einer großen, mehr physischen Geschichte.

Jan Silberstorff: Das ist kein Verwechseln, das ist richtig. Das ist nur ein bisschen grobstofflicher. Das ist ja wie in der Physik, wo man versucht, zu immer kleineren Teilchen zu kommen. Am Anfang hast du so einen Stein in der Hand und sagt: Okay, einen kleineren Stein habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht ist das der kleinste. Irgendwann kriegst du ihn dann doch zerhackt und so weiter. Das heißt, du kommst immer mehr zum Zentrum, das heißt zu einer immer kleineren Einheit. Und genau so ist es am Anfang, wenn du dich aus der Hüfte heraus bewegst, aus dem ganzen Bereich heraus. Das ist komplett richtig.

Dann musst du ein bisschen feiner werden. Gibt es da nicht eine klei­nere Einheit, aus der ich mich bewegen kann, und noch eine kleinere, und noch eine kleinere. Was das Dantian angeht, da will ich nicht zu viele Vorgaben machen, da ich nicht weiß, wie sich das bei anderen anfühlt. Es gibt Theorien, dass jeder die Farbe Rot auf seine Weise sieht. Es ist eine Verdichtung von dem, was wir Energie nennen.

„Man müsste diesen Energiebegriff eigentlich noch einmal erklären. Was ist eigentlich Energie, und was stellen wir uns darunter vor?“

Man müsste diesen Energiebegriff eigentlich noch einmal erklären. Was ist eigentlich Energie, und was stellen wir uns darunter vor? Ich habe mir früher immer etwas wie in „Krieg der Sterne“ vorgestellt: Laser strahlen im Körper, die durch die Gegend zischen oder so. Das ist es jedoch gar nicht, sondern es ist vereinfacht gesagt ein verdichtetes Gefühl im Dantian. Etwas, wo sich etwas Immaterielles verdichtet, aber das von dem Punkt aus, den man tatsächlich auch bewegen kann, worüber man tatsächlich auch den Körper aufstellen kann. Also es ist definitiv eine Wahrnehmung, keine Vorstellung oder Einbildung, sondern eine Wahrnehmung. Ich habe neulich noch einmal mit jemandem, der schon Jahre bei uns trainiert hat, leider ein Missverständnis aus dem Weg räumen müssen: Es ist halt keine Kugel oder so was. Es hat keine Grenze. Es verdichtet sich mehr, zum Mittelpunkt hin.

Sasa Krauter: Von meiner Geschichte her kann ich die Entwicklung vielleicht so beschreiben: Das Dantian habe ich mir zuerst nur vorgestellt und zwar ungefähr wie ein Kreuz, einen Punkt auf dem Bauch außen. Dass ich mir dies so äußerlich vorgestellt habe, habe ich aber erst gemerkt, als es nicht mehr so war … bei der ersten Stufe der Sitzmeditation. Dann rutschte das mehr nach innen, unter die Haut von innen. Dann noch weiter nach innen. Und dann von da in den ganzen Körper und von da sogar, wenn ich will, drüber hinaus.

Jan Silberstorff: Das klingt zum Beispiel doch ganz vernünftig. Ich hätte es nicht so beschrieben, aber es klingt absolut vernünftig. Da ist einfach ein Gefühl von Verdichtung, ein angenehmes Gefühl. Es kann auch warm sein, muss es aber nicht. Ich glaube, bei den meisten ist es nicht warm. Und man muss die Verbindung kriegen, von diesem verdichteten Gefühl zum Körper.

Sasa Krauter: Im ganzen Körper?

„Dantian als der Mittelpunkt des ganzen Körpers. Der dichteste Mittelpunkt. Dieses ganz universale Bild.“

Jan Silberstorff: Ja. Dantian als der Mittelpunkt des ganzen Körpers. Der dichteste Mittelpunkt. Dieses ganz universale Bild, ich meine damit wirklich das Universum jetzt, dieses universale Bild einer Galaxie, wo ein Mittelpunkt ist, von dem die Schwaden abgehen. So ungefähr ist das.

Sasa Krauter: Und in dem Zusammenhang, wie ist der Satz zu verstehen „Die Bewegung startet im Dantian, doch die Wurzel der Bewegung liegt in den Füßen oder in der Erde“?

Jan Silberstorff: Das eine ist energetisch, das andere ist physisch.

Sasa Krauter: Ist es auch das, wenn du sagst: „alles nacheinander und doch gleichzeitig“?

Jan Silberstorff: Genau. Energie fließt vom Dantian die Wirbelsäule hoch bis in die Fingerspitzen. Das übe ich langsam, in einem Zeitintervall von ein paar Sekunden. Es dauert also. Einige Sekunden vielleicht. Meine Aufmerksamkeit geht diesen Weg dann entsprechend ab, die Energie folgt. Trotzdem ist die ganze Zeit die gesamte Strecke energetisch geschlossen. Das bedeutet auch, dass ich in jedem Moment überall sein kann. Das heißt: Ich übe zwar langsam, aber die Bewegung muss sofort präsent sein. Im Kampf beispielsweise muss das fürchterlich schnell geschehen.

Sasa Krauter: Das ist auch das, was du in neuster Zeit mit „online sein“ beschreibst. Das finde ich auch ganz gut. So „alert“ bis in die Fingerspitzen. Es ist nicht erst anfangen, erst eins, dann zwei, drei, vier …

Jan Silberstorff: Genau. „Alert“, da ist schon ein bisschen Spannung drin. „Online sein“, das ist einfach so.

Sasa Krauter: Stecker drin.

Jan Silberstorff: Genau, das ist einfach so.

Sasa Krauter: Ich habe eine Schülerin, die übersetzt gerade chinesische Texte von Chen Zhenglei, er beschreibt ja die ganze Form, ähnlich wie in dem Chen-Xin-Buch, glaube ich. Alles genau, für jedes Bild der Form. Er beschreibt ganz ausführlich, welche Stelle des Fußes Kontakt zum Boden hat, zum Beispiel, dass die Yongquan-Punkte leer sind, im Gegensatz zum restlichen Fuß. Das ist so genau beschrieben, wie ich das in unserem Verband oder über dich nie kennengelernt habe. Wie kann ich das verstehen?

Jan Silberstorff: Na, so, wie es da steht.

Sasa Krauter: Warum machen wir das nicht so?

Jan Silberstorff: Wir machen es doch so. Du hast doch gerade das Chen-Xin-Buch erwähnt. Es sind zwei Sachen. Im Chen-Xin-Buch ist das ja sehr detailliert dargestellt und dadurch auch sehr kompliziert. Und es führt in der Realität zu einer völligen Überforderung des Schülers. Dadurch wird es in einem gewissen Sinne unnütz. Das heißt, das zu vermitteln, ist interessant und lustig, aber hat vielleicht gar keinen Effekt. Aber das ist natürlich nicht so.

Jetzt könnte man sagen, wenn man so was schreibt, dann ist das ein bisschen Aufschneiderei – guck mal, was ich alles weiß – aber nützlich ist es ja doch nicht. Das stimmt aber auch nicht. Ich schreibe ja selbst auch solche Sachen. Mein Push-Hands-Buch kaufen alle, doch die meisten lesen es nicht, weil sie irgendwo hängenbleiben, weil es zu kompliziert wird. Und das ist auch in Ordnung. Und trotzdem muss es geschrieben und veröffentlicht werden. Chen Xin hat also eine unheimlich gute Arbeit gemacht, weil er das veröffentlicht hat. Wir haben es. Was aber nicht heißt, dass jeder mit diesem Buch trainieren sollte, weil er dann vielleicht an der Natürlichkeit der Sache vorbeirennt. Weil dann einfach zu kompliziert gedacht wird und sich die Natürlichkeit dadurch nicht entwickelt.

Sasa Krauter: Eine Sache hat mich bei Chen Zhenglei irritiert. Er beschreibt das Heben der Arme im Bild „Buddhas Wächter“ so: Er sagt, dass das innere Qi zuerst ins Dantian sinkt und dann die Innenseite der Beine herunter, bis Yongquan, dann die Außenseite hoch und entlang Dumai hinten den Rücken hoch, dann durch beide Schultern in die Ellbogen bis in die Hände. Jetzt würde ich sagen, das ist gerade anders herum als unser Energieverlauf: vorne hoch und hinten runter.

„Die Essenz der Dinge ist leer, lasse los, und du erfährst es.“

Jan Silberstorff: Zwei Sachen dazu: Erstens, ist das überhaupt nicht falsch. Auf die Weise geübt, ist das ein sehr gutes und tiefes Qigong-System. Ganz klasse. Es ist aber trotzdem schon weitaus zu kompliziert. Bei Buddha war es zum Beispiel so: Du hast 80.000 Bücher von Buddhas Lehrreden. Es ist eine unheimlich klare und gut beschriebene Geisteswissenschaft, eine Religion. Aber schließlich und endlich, um sich der Sache wirklich anzunehmen, musst du einfach nur kapieren: Die Essenz der Dinge ist leer, lasse los, und du erfährst es. Wenn ich die 80.000 Bücher lese, wann soll ich denn dann meditieren? Dafür habe ich gar keine Zeit. So.

Es ist super und richtig. Ich werde auch in meiner Zukunft viele solche Sachen noch schreiben, aber ein Chen Fake, ein Yang Luchan, ein Chen Changxing, ein Chen Xiaowang haben ihr hohes Level ohne so viele Bücher zu lesen erreicht. Das, was unser Großmeister unterrichtet, das Wai-San-He und dieses Reeling-Silk-Prinzip – Energie die Wirbelsäule hoch, bis in die Fingerspitzen und wieder bis ins Dantian – das beides zusammen reicht aus, um so gut zu werden wie Chen Changxing, und reicht aus, um Erleuchtung zu erlangen. Auf dieser Basis, wenn man das klar verstanden hat, kann man sich natürlich auch mit solchen Geschichten intellektuell und auch physisch beschäftigen. Und dann ist das auch unheimlich wertvoll. Aber davor macht das keinen Sinn.

Sasa Krauter: Das „Selbst-Lassen“ finde ich einen ganz guten Hinweis, das scheint jedoch mit der Suche nach Perfektion in einer Kampfkunst manchmal schwierig unter einen Hut zu bringen zu sein. Das hat ja auch viel mit Kontrolle zu tun, zumindest auf dem Weg dahin. Aber wie soll das gehen: von mir selbst zu lassen und immer besser die 19er-Form machen?

Jan Silberstorff: Es gibt einen sehr schönen Satz im „Advaita“: „Wer will denn eigentlich Erleuchtung haben?“ Das ist doch gerade das Ego, das Erleuchtung haben will. Alle sagen: Ego aufgeben, Selbst aufgeben, all diese ganzen Geschichten, um Erleuchtung zu erlangen. Aber wer treibt uns denn dahin, überhaupt Erleuchtung zu haben? Und da muss man zwei Sachen verstehen. Zum einen: Was will ich tatsächlich? Will ich tatsächlich diese letztendliche Auflösung? Oder, wenn es wirklich das Ich ist, das eigentlich diese Erleuchtung sucht: Das Ich will ja gar nicht sterben. Dann will man ja eigentlich eher so etwas Unsterbliches, eine Heldin, ein Held sein. Man will irgendwie was Tolleres als vorher. Vielleicht etwas Permanenteres, man will vielleicht nach dem Tod nicht tot sein oder man will in den Himmel. Aber wirklich konsequent nicht mehr vorzukommen, was ja im Buddhismus, wenn man so will, die letztendlich letzte Stufe ist, das muss man erst mal genau wissen, ob man das eigentlich anstrebt.

Wenn einem das nicht so klar ist, dann geht man da auf etwas zu, was man eigentlich gar nicht wirklich will. Dann hat man unbewusst natürlich einen Gegentrieb, gegen das, was man eigentlich anstrebt. Und damit komme ich nicht allzu weit. Trotzdem muss man nicht depressiv weltenttäuscht sein, um diese letztendliche Stufe erreichen zu wollen, denn je weiter ich komme in dieser Entwicklung, umso besser geht es mir eigentlich. So auch die Meditation: Je tiefer ich komme, umso angenehmer fühlt sich das an. Mein Lehrer hat sehr schön gesagt: „Warum soll die letzte Stufe jetzt die einzige sein, die nicht so ist“. Also beides muss irgendwo zusammenkommen. Deshalb muss man einmal erkennen: Okay, auf der einen Seite ist dieses Streben nach Erleuchtung irgendwo auch eine Ego-Geschichte: „Ich will jetzt diese Erleuchtung“. Andererseits gibt es auch diese tantrischen Schulen oder wie immer man das nennt oder auch Daoisten, die sagen: „Es ist jetzt so, wie es ist, und so ist es“. Aber beides muss in Wirklichkeit zusammenkommen. Wenn ich einfach nur „Laisser-faire“ mache, komme ich auch zu nichts. Wenn ich zu viel Disziplin habe, komme ich auch zu nichts. Deshalb: Disziplin und Gelassenheit, beides zusammen ist ganz entscheidend. Und ich muss mein Ich auflösen, um diese tieferen Stufen zu erkennen.

Aber es geht nicht darum, kein Ich mehr zu haben, sondern in dem Moment der mystischen Erfahrung darf das Ich keine Rolle spielen, muss ich davon losgelassen haben, um dahinter in die tieferen Ebenen zu kommen. Nach dieser mystischen Erfahrung sozusagen gehe ich ganz normal durch die Welt, und das Ich ist das, was mir sagt „Ich muss jetzt was essen!“, „Ich muss jetzt mit dem was besprechen!“. Das ist ein Werkzeug. Es ist nur nicht mein – vereinfacht ausgedrückt – unsterbliches Wesen: Das Ich ist etwas, was sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt und sich daraus ergibt, aus meinen Genen, aus meinem Körper, aus meiner Sozialisation, aus allem, und das stirbt auch wieder. Aber es ist jetzt da.

„Es geht nicht darum, kein Ich mehr zu haben, sondern in dem Moment der mystischen Erfahrung darf das Ich keine Rolle spielen.“

Dass das Ich eine Illusion wäre, ist ja Quatsch, weil es ja da ist. Und es ist auch ganz wichtig. Ich muss es nur dahin einordnen, wo es hingehört. Und da ist auch der Fehler: Wir denken, dass das Ich unsterblich ist. Das ist es halt nicht. Und um das zu erkennen, muss ich ab und zu mal dem Ich eine Ruhepause gönnen, das kann dann mal was anderes machen, damit das, was da drunter ist, erkennbar wird. Mein Lehrer hat dazu gesagt: „Guck, du musst das Ich dann aufgeben, um diese Erfahrung zu machen. Diese Erfahrung machen wir nur in der Ich-Losigkeit (und nach meinen Termini noch tiefer in der Selbst-Losigkeit, nach der Ich-Losigkeit). Aber wie gesagt, egal, wie tief du fällst, du brauchst überhaupt keine Angst zu haben, irgendwann lässt deine Konzentration nach, die Meditation wird wieder schwächer, und das Ich kommt hundertprozentig wieder zurück. Du brauchst keine Angst zu haben, dass es nicht wiederkommt. Das ist das erste, das sich wieder meldet, das ist auch willkommen, und das ist gut.“

Sasa Krauter: Was bedeutet Erleuchtung für dich?

Jan Silberstorff: Erleuchtung sagt ja vom Wort her schon etwas wie „leuchten“. Das heißt, du bist in einem dunklen Raum, du siehst nichts, stolperst ständig über irgendwelche Sachen, stößt irgendwo gegen. Dann findest Du den Lichtschalter, knipst das Licht an und siehst, wo was ist, und weißt Bescheid. Das ist eigentlich Erleuchtung: zu erkennen, wie die Dinge sind, warum sie so sind. Ich sage mal: Wuji, Taiji, Dao, De, diesen Gesamtkontext, wirklich nicht zu wissen, sondern erfahren zu haben. Das ist Erleuchtung.

Sasa Krauter: Und so kann das Taijiquan dann eben auch ein Erfahr­ungsweg sein. Worin siehst du die Zukunft des Taijiquan? Wofür machen wir heute hier Taijiquan?

„Taiji stellt für die breite Masse eine Gesundheitsübung dar, für eine Harmonisierung ihres Alltags, eine bessere Fähigkeit zur inneren Sammlung.“

Jan Silberstorff: Taiji stellt für die breite Masse eine Gesundheitsübung dar, für eine Harmonisierung ihres Alltags, eine bessere Fähigkeit zur inneren Sammlung, das heißt, dass man sich selbst im normalen Alltag nicht verliert. Aber nicht im Sinne eines Egoismus, sondern gerade durch Selbstlosigkeit zu sich selbst findet, nämlich zu diesem tieferen Selbst. Und dann, je nachdem wie weit man sich darin entwickelt, halt ein Erleuchtungsweg. Und das ist die Zukunft des Taiji. Aber: Wenn der geistige Weg im Taiji die Zukunft des Taiji darstellt, bleibt es trotzdem eine Kampfkunst. Wir sehen doch jetzt schon, wir haben ja Taiji als Kampfkunst, aber die Menschen, die das machen, sind ja größtteilig in dem Sinne keine klassischen Kampfkünstler, sondern Intellektuelle, die Angst vorm Kämpfen haben, die nicht kämpfen wollen, die Gewalt verabscheuen und eigentlich mit dem Geist arbeiten wollen, aber den Körper als Medium nehmen im Sinne vom Taiji. Und das ist ja auch richtig.

Sasa Krauter: Zumindest bei uns in Deutschland.

Jan Silberstorff: Genau. Bei uns in Deutschland und generell auch im Westen, außerhalb Chinas. Aber in China auch mehr und mehr. Und trotzdem wird die Kampfkunst dadurch nicht verloren gehen, denn die Kampfkunst vermittelt uns die Wurzel unserer Kunst. Wenn es darum geht, um Buddhas Worte zu benutzen, aus dem Kreislauf auszubrechen, um eine Selbstauflösung also, eine Nicht-mehr-Wiedergeburt anzustreben, dann kann ich mich von allem abkehren, kann von allem loslassen und setze mich in eine einsame Berghütte. Dann brauch ich mich mit weltlichem Geschehen nicht mehr auseinanderzusetzen. Fragen, ob man Kinder kriegen muss oder nicht, ob man eine Beziehung führt oder nicht, das ist alles irrelevant, weil ich einfach gar nicht mehr hier sein möchte. Dann gibt´s auch nichts groß, worum ich mich hier kümmern sollte, weil ich einfach nicht mehr hier sein will. Wenn ich beschließe, Deutschland zu verlassen und nach Brasilien zu gehen, dann muss ich mich nur noch darum kümmern, wie komme ich jetzt nach Brasilien. Aber nicht, was muss ich, wenn ich in Brasilien bin, hier noch machen, nämlich nichts.

Aber ich glaube, das ist nicht das Ziel der meisten Menschen. Noch nicht vielleicht. Wenn sie dann eine höhere Stufe erreicht haben, vielleicht wollen sie dann weiter. Eigentlich geht es doch darum, ein Leben in Harmonie, in Glückseligkeit zu führen, eigentlich geht es mehr um Adam und Eva, hätte ich jetzt fast gesagt, vor dem Apfelbiss. Also eigentlich in einem Paradies leben zu wollen. Ein erfülltes, vollkommenes und glückliches Leben zu führen, mit der Option, dass sich das nach dem Tod entsprechend weiterentwickelt. Und dafür ist Taiji das Medium, weil du durch das Taiji erstmal dein Leben in den Griff kriegst sozusagen. Du findest Gleichgewicht und Harmonie in deinen Handlungen, du gerätst nicht zu sehr in Stress, du streitest dich nicht so viel, du lebst mit deinen Menschen in Zufriedenheit und Liebe. Du bist gesund. Gleichzeitig aber erkennst du durch innere Erfahrung, durch Mystik, den Zustand des Nicht-Seins. Und auch den dazwischen des seienden Nicht-Seins oder nicht-seienden Seins. Diese drei Ebenen: Wu (das Nicht-Sein), Wuyou (das nicht-seiende Sein) und You (das Sein), wo wir jetzt hier sind auf dieser Welt. Diese drei Ebenen machen ja das gesamte Sein aus, wenn du so willst. Und damit auch uns als Manifestationen, Wanwu. Nur im Sein zu leben, das ist irgendwie Ego und Stress und Kämpfen. Das Nicht-Sein zu erkennen als Erfahrung ist Sicherheit und Freiheit gleichermaßen. Und das nicht-seiende Sein, also Himmelswelten und so weiter, was dazwischen ist, das alles zusammen zu erfahren, macht ein vollkommenes Leben aus.

Sasa Krauter: Das passt sicher zu deinen persönlichen Erfahrungen, das ist ja auch deine persönliche Sicht. Meinst du, es gibt auch andere Tendenzen innerhalb des Taijiquan?

Jan Silberstorff: Ja natürlich, selbstverständlich. Aber was heißt Tendenzen? Es ist immer eine Frage von Entwicklungsstand und auch Alter, wenn man so will. Mit Entwicklungsstand meine ich nicht, dass jemand, der im Taiji nur auf einem Turnier kämpft, sich nicht entwickelt hat. Sondern du kommst über den Turnierkampf irgendwann vielleicht zur Meditation. Das heißt, der Turnierkampf zum Beispiel kann ein wichtiger Faktor sein in der Entwicklung. Die Meditation ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung, die Form, aber auch das alltägliche Miteinander. All diese Geschichten sind Bereiche, an denen man wächst.

Und mit Entwicklung meine ich nicht, das eine ist besser als das andere, sondern alles baut irgendwie aufeinander auf. Und je weiter ich auf einen Berg hinaufklettere, ums so weiter kann ich halt gucken. Wenn ich sage, dass das Geistige sich durchsetzen wird oder die Spiritualität das wesentliche Ziel werden wird im Taiji, dann bedeutet das nicht, dass die Kampfkunst sich dabei auflöst. Sondern die Kampfkunst wird immer ein wesentlicher Faktor bleiben. Genauso wie die Fitness und die Gesundheit. Im Taiji kann man diese Teile vom Großen Ganzen gar nicht trennen.

Und das Große Ganze allmählich wahrzunehmen ist der Beginn der Spiritualität. Das heißt einfach, dass die Menschen lernen, ein menschenwürdigeres – würde ich fast sagen – Leben zu leben. Das heißt, dass sie sich selbst spüren, dass sie sich selbst wahrnehmen, dass sie den Nächsten spüren, den Nächsten wahrnehmen, dass sie die Identität mit dem Nächsten, die Gemeinsamkeit mit dem Nächsten besser wahrnehmen und dadurch mit mehr Nächstenliebe und Mitgefühl und eigenem Frohsinn lernen zu leben. Das heißt: einfach ein schöneres Leben haben. Das ist die größte Zielgruppe. Und auch das ist der Beginn von Spiritualität.

Sasa Krauter: Und das ist das, was wir als Verband vermitteln möchten? Oder wo soll die Verbandsarbeit der WCTAG hingehen?

„Es gibt auch Probleme, es gibt Egos, es gibt Leute, die auch nach Macht gucken. Das ist das, woran wir arbeiten müssen.“

Jan Silberstorff: Da würde ich mich sehr drüber freuen. Wie jeder andere Club, der größer wird, haben wir mit mehr Menschen zu tun, und je mehr Menschen da sind, um so mehr Probleme gibt es auch. Unser Ziel ist ein immer besseres Miteinander, aber das heißt nicht, dass wir alle nur noch in weißen Gewändern rumlaufen und friedliche Wesen sind und auf einer Harfe spielen. Es gibt auch Probleme, es gibt Egos, es gibt Leute, die auch nach Macht gucken. Das ist das, woran wir arbeiten müssen. Das geht jeder größeren Gruppe so, das war bei Buddha nicht anders und ist es in der Politik auch nicht.

Sasa Krauter: Gehen wir mal davon aus, dass es sich dahin entwickelt. Ob sich dann wohl auch unsere – jetzt komme ich wieder zurück zum Anfang – unsere Methodik etwas verändert? Du sagst jetzt vielleicht eher nein. Oder auch unser Prüfungssystem? Dann werden vielleicht eher andere Sachen abgeprüft.

Jan Silberstorff: Nein, es wäre ein Fehler, wenn ich zum Beispiel jetzt, wie am Anfang des Gespräches, sage: Okay, mich selbst interessieren Turniere nicht mehr, wenn dadurch im Verband keine Möglichkeit mehr bestünde, Turniere zu machen. Ich kann jetzt nicht jemand Neues nehmen und dahin stellen, wo ich jetzt bin, und sagen: „Guck mal“. Ich muss den doch auf seine Weise diesen Weg gehen lassen. Das heißt, für ihn gehören am Anfang vielleicht Turniere mit dazu. Ich vergleiche das immer sehr gerne mit dem Aikido. Ueshiba hat als ganz kleiner Mensch angefangen, ganz große Felsbrocken hochzuheben. Das hat sehr viele Leute beeindruckt, wie so ein kleiner Mann so stark sein kann. Der hat lange Zeit auch sehr äußerlich seine japanischen Geschichten gemacht, und im Alter, auch im Verbund mit seiner eigenen Spiritualität, ist er immer energetischer geworden. Am Ende waren das nur noch ganz feine, wenn überhaupt, Bewegungen, mit denen er gearbeitet hat. Ich nenne das mal so das I-Tüpfelchen.

Was heute passiert, das ist im Taiji eigentlich genau das Gleiche: Die Leute suchen nur noch dieses I-Tüp­felchen. Aber dieses I-Tüpfelchen kommt nach dem Strich und nicht vorher. Du musst zuerst diesen Weg gehen. Du musst eigentlich gucken, wie hat Ueshiba angefangen, okay, das mach ich jetzt auch, und darin natürlich den eigenen Weg finden. Aber nicht gucken, was hat er zum Schluss gemacht, sonst fehlen dir 50 Jahre Entwicklung bis dahin.

Sasa Krauter: Das sehe ich hier auch als Problem. Zu uns kommen ja viele, die sind Mitte 40 oder Mitte 30 und wollen gleich mit dem energetischen oder geistigen Aspekt des Taijiquan anfangen. Aber der Körper wird gar nicht mehr ausgebildet.

Jan Silberstorff: Und das ist bei der Meditation halt auch so. Es macht keinen Sinn, gleich von Anfang an, wenn ich keine Erfahrung habe, sich einfach nur hinzusetzen und leer zu werden. Dann sitze ich wahrscheinlich dumpf vor mich hin. Sondern ich muss eine ganze Ecke Sachen machen, wie du vorhin auch gesagt hast, um in der dritten Stufe dann auch konsequent voranzukommen und vor allem auch zu erkennen: „Bin ich da auf dem richtigen Weg oder nicht?“

Das physische Training ist immer das wesentliche Medium im Taijiquan. Nur muss es mit der korrekten geistigen Ausrichtung verbunden sein, damit diese Einswerdung geschehen kann.

Sasa Krauter: Deswegen sage ich scherzhaft in letzter Zeit in meinen Trainings: Seit ich mich mehr mit dem spirituellen Aspekt des Taijiquan beschäftige, kämpfe ich wieder gerne, also mach ich wieder gern Pushhands.

Jan Silberstorff: Ja, und vor allem auch das Prinzip, nach dem wir kämpfen, die Art, wie wir kämpfen – ist ja eigentlich nichts anderes als eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Problemen. Das heißt, unser ganzes Leben lernen wir darüber auszusteuern.

Sasa Krauter: Ich finde das übrigens einen sehr, sehr großen Vorteil vom Taijiquan. Im Grunde genommen kommt mir Taijiquan so vor, als ob es gleich mehr diesen Alltagstest in sich trägt. Dadurch, dass mal jemand an dir „rumdrückt“ beispielsweise beim Pushhands, hast du auch leichter den Übertrag in den Alltag.

Großmeister Chen Xiao Wang beim Unterrichten der 19er Form des Chen Taiji.

„Das heißt, ich habe über die Sitzmeditation mit geschlossenen Augen die innere Welt sozusagen, ich habe über den Stand, Reeling Silk und die Formen langsam einen Übertrag in die Bewegung, in das Leben, und übers Pushhands auf andere Menschen.“

Jan Silberstorff: Das meine ich auch. Unser Klientel, die Zielgruppe sozusagen, sind auch Menschen, die zwar spirituell interessiert sind, aber eigentlich das weltliche Leben schön finden. Sie wollen eigentlich daran arbeiten, bessere Menschen zu werden, sie wollen wachsen. Ob sie damit in den Himmel wachsen oder sogar über den Himmel hinauswachsen, ist dann individuell unterschiedlich. Aber eigentlich wollen sie einfach lernen, sich zu entwickeln und besser zu werden. Und da ist Taiji so toll, weil es bis über den Himmel hinausreicht an Entwicklungsmöglichkeit, aber auch unheimlich viel für den normalen Alltag bereithält. Es ist die Brücke zwischen einer asketisch-mönchischen Erfahrung im Inneren eines Berges hin zu den Alltagsproblemen, wenn ich bei Penny an der Kasse stehe und alles dauert so lang, ich muss jetzt noch drei Kinder abholen und ich muss noch dies und jenes. Das heißt, ich habe über die Sitzmeditation mit geschlossenen Augen die innere Welt sozusagen, ich habe über den Stand, Reeling Silk und die Formen langsam einen Übertrag in die Bewegung, in das Leben, und übers Pushhands auf andere Menschen. Bis hin zu unserem Alltagskampf, wobei ich das nicht so negativ meine, sondern unsere Aufgaben im Alltag, an denen ich ebenfalls wachse und mich beweisen kann.

Sasa Krauter: Ja, es ist so handfest.

Jan Silberstorff: Das ist also Fußball mit Ball, nicht ohne Ball.

Sasa Krauter: Weißt du, mein Ziel ist auch, dass sich mein Herz immer mehr öffnet, sag ich jetzt mal, dass ich weniger Ängste habe, dass ich glücklich bin und andere damit auch glücklicher machen kann. Und dann auch besser sterben kann und solche Sachen.

Jan Silberstorff: Und das ist ja der Weg, der dann immer tiefer rein führt, immer tiefer, und plötzlich bist du dann doch ein Buddha. Was du am Anfang eigentlich gar nicht vorgehabt hast.

Sasa Krauter: Vielleicht bin ich das schon, ja. (lacht)

Jan Silberstorff: Ja, das sowieso.

Sasa Krauter: Ich habe mich etwas schwer getan mit der Verbindung von Kampfkunst und geistigem, spiri­tuellem Weg, mit diesem Konflikt von „aus Liebe töten?“ – so habe ich es immer genannt. Gerade mit den Waffenformen. Ich dachte: Ich will ein offenes Herz, wie passt das zusammen?

Jan Silberstorff: Ich habe ja auch die Möglichkeit, mich davon zu distanzieren. Wir leben in einer christlichen Kultur: „Halt die andere Wange hin“, das kann ich praktizieren. Ich kann, wenn ich jetzt in meiner Hütte in Brasilien sitze und meditiere und da kommt jemand, der will mir was klauen oder mich bedrohen oder der will mich erschießen, dann kann ich ja loslassen und sagen: „Gut, dann erschieß mich.“ Das heißt, ich kann ja auf die Gewaltanwendung verzichten. Und gerade dadurch, wie ein Lehrer von mir in ähnlicher Weise sagte, dass ich mich mit Gewalt auskenne, das heißt eine Gewalt auch überstehen könnte, kann ich sie auch einschätzen, kann darin innere Ruhe finden und vielleicht auch darauf verzichten.

Kann also auch sagen: „Ich wehre mich jetzt nicht.“ Ich habe aber die Möglichkeit. Diese spirituellen Fragen sind interessant, aber es gibt halt auch einen Alltag. Im Falle einer Bedrohung meiner Nächsten wird es schwieriger. Natürlich kann ich zu meiner Familie sagen: „Mensch, Frau, Kinder, wisst ihr was, wir sterben jetzt mal alle.“ Oder fieses Szenario: Deine Frau wird vergewaltigt, und du bist als Mann dabei. Das sind alles so Szenarien, da kommt man irgendwann auf den Punkt. Es geht nicht wirklich nur um reine Gewaltfreiheit in dem Sinne, sondern es geht auch um Notwehr, es geht um das geringste Übel.

Und ich sage mal, wenn da einer ist, der fünf Leute umbringen will, und ich mache ihn unschädlich und rette damit die fünf, ist das karmisch bestimmt nicht das Allerschlimmste. Schlimm ist es, wenn ich den einen umbringe, weil ich seine fünf Frauen haben möchte. Dann ist es ein Drama. Aber wenn ich jetzt fünf Leute rette und dadurch einen unschädlich mache, dann ist das vielleicht auch vertretbar. Da muss jeder auf seine Weise sich selbst erkennen.

„Es geht nicht darum, dass sich ein guter Mensch nicht mehr wehrt, sondern um die Motivation, die dahinter steht, das Herz, warum eine Handlung passiert.“

Das heißt, es geht nicht darum, dass sich ein guter Mensch nicht mehr wehrt, sondern um die Motivation, die dahinter steht, das Herz, warum eine Handlung passiert und die Kontrolle dieser Handlung vor allen Dingen. Dass es nicht eine Wutreaktion ist, sondern die Kontrolle dieser Handlung, das ist das Entscheidende bei der Geschichte.

Sasa Krauter: Das ist so ein Punkt, bei dem ich mir vorstellen kann, dass sich auch einige Frauen schwer tun: mit diesem „Kampfkunst als Weg“. Aber natürlich auch Männer. Und auch mit anderen Sachen, beispiels­weise: In der europäischen Kampfkunstszene wurden viele asiatisch-autoritäre-zentralistische Hierarchien einfach übernommen. Und unser westlichen Errungenschaften, beispielsweise unser Demo­kratieverständnis, werden oft nicht mit berücksichtigt. Auch im methodisch-didaktischen Bereich wurden oft nur die asiatischen Methoden übernommen.

Jan Silberstorff: Natürlich. Taiji wird eine Weltkunst werden. Das ist ja das, womit ich mich jetzt gerade im Äußeren hauptsächlich beschäftige: Wie können wir diese chinesische Kunst, die jetzt eine Weltkunst wird, unter Erhalt der chinesischen Wurzel trotzdem globalisieren, dass auch wir aus fremder Kultur uns genauso damit identifizieren können. Das bezieht sich auch auf unsere westliche Spiritualität, auf unsere Religionen, auf unsere ganze Kultur, mit unserer Demokratisierung und so weiter, auf all diese Sachen. Das ist ein riesiger, komplexer Bereich.

Es gibt so viele verschiedene Meinungen, es gibt so viele verschiedene Schulen, philosophische, spirituelle und sonstige. Wir finden alle den Daoismus toll, aber der Daoismus wurde in China auch jahrhundertelang sehr stark kritisiert. Wer hat denn nun Recht mit all diesen Meinungen? Ganz einfach ausgedrückt: Das ist völlig egal. Reinige dein Herz, öffne dein Herz, entwickle Liebe, und alles andere ergibt sich von allein. Und ob da mal eine Situation ist, wo man mal ein bisschen durchgreift oder nicht, hat nichts mit der äußeren Handlung zu tun, sondern mit der Motivation, woraus diese Handlung entspringt. Und wenn die Motivation rein und liebend ist, dann wird sie sich auch entsprechend im Äußeren zeigen.

Wie hat mal ein Lehrer zu mir gesagt: Auch Jesus hat Leute aus dem Tempel gepeitscht, wäre aber in jedem Moment bereit gewesen, für diese Personen auch zu sterben. Und das ist ein entscheidender Punkt. Er macht das nicht für sich selbst, sondern für die Leute. Aber das kann man natürlich auch sehr leicht miss­verstehen. Und dann entstehen plötzlich Kreuzzüge und so weiter, und das ist sicherlich ein sehr großes Missverständnis.

Sasa Krauter: Der Bereich Spiritualität, das ist ja ein Gebiet von teilweise auch unseriösen Angeboten. Auch in der Taiji-Szene, denke ich, muss man aufpassen.

Jan Silberstorff: Ja, total. Es ist ein unheimlich gefährliches Gebiet, man muss einen authentischen Lehrer haben, man muss eine authentische Linie haben, der man folgt. Und auch innerhalb einer authentischen Lehre gibt es Sektierereien und so weiter, da muss man Abstand von nehmen. Und man muss sehr ehrlich mit sich selbst praktizieren.

Sasa Krauter: Ich sehe ja den Vorteil von Taiji in der Freiheit. Ich finde, Taiji ist etwas, das einen auf den Weg bringen kann.

Jan Silberstorff: Genau, das meine ich.

Sasa Krauter: Es kann! Muss es aber nicht …

Jan Silberstorff: Jeder drückt das auf seine Weise aus, und je tiefer ich in dieses Prinzip komme, umso klarer verstehe ich auch die Zusammenhänge. Und dann ergibt sich die Handlung richtig und nicht jede ist gleich Erleuchtung, man macht auch Fehler. Man überreagiert mal, man unterreagiert mal. Das ist ja der entscheidende Punkt, man wird mit der Zeit besser.

Sasa Krauter: Das freiheitliche System sehe ich aber auch als einen Nachteil und das wäre auch meine letzte Frage. Du weißt ja: Yin und Yang. Jetzt haben wir viel über die Vorteile geredet, was ist denn der Nachteil unseres Systems?

Jan Silberstorff: Es gibt keinen Nachteil.

Sasa Krauter: Ah, komm. Jan.

„Das Taiji-Prinzip ist universal, das ist kein System oder kein Stil, es ist die Wirklichkeit. Und dann hat es kein Limit und auch keinen Nachteil.“

Jan Silberstorff: Nein, es gibt nur dann einen Nachteil, wenn du das System als Chen-Stil, der anders ist als Yang-Stil, der anders ist als Buddhismus, der anders ist als Christentum, der anders ist als Daoismus etc bezeichnest. Wenn du sagst: Das ist meine Übung, das ist Chenjiagou, wenn du das darin belässt, dann hast du ein Limit. Wenn du sagst: Okay, das ist eine Technik und wir haben aber keinen Bodenkampf oder wir haben aber dies oder das nicht. Oh, Mensch, da haben wir jetzt Lücken. Wenn du aber den Chen-Stil, Chenjiagou, unsere ganze Kultur und unsere Tradition der Chen-Familie nimmst, um darüber das Taiji-Prinzip genauer zu erkennen – das Taiji-Prinzip ist universal, das ist kein System oder kein Stil oder so, es ist die Wirklichkeit. Und dann hat es kein Limit und auch keinen Nachteil.

Sasa Krauter: Also ich würde das vielleicht so beschreiben: Taiji kann dich auf den Weg bringen, aber es bedarf auch viel Eigeninitiative, um zu schauen: Was brauche ich, was hilft mir, diesen Weg zu gehen.

Jan Silberstorff: Natürlich. Zwischen Nicht-Sein, nicht-seiendem Sein und Sein sind ja unheimlich viele Dimensionen. Nicht jeder geht direkt auf diese Weisheit zu, sondern da gibt es vielleicht noch so was wie Aufgaben und Bestimmungen im Leben. Und die sind individuell unterschiedlich. Und vielleicht macht das auch mal mehr Sinn zu sagen, in diesem Leben habe ich eine bestimmte Bestimmung, da geht es nicht um Erleuchtung, sondern ich muss was Bestimmtes machen. Und das tue ich jetzt. Jeder muss individuell seinen eigenen Weg finden.

Sasa Krauter: Vielen Dank für das Gespräch.